Herr Schlothauer, personalisierte Medizin ist ein Schlagwort, aber was genau bedeutet es?
„Da gibt es für mich zwei Blickwinkel: Arzneimitteltherapie, wie wir sie kennen, ist ausgerichtet auf einen durchschnittlichen Menschen. Der existiert aber gar nicht, sondern Patienten sind Männer oder Frauen, haben Über- oder Untergewicht und vieles mehr. Doch das interessiert nach der Zulassung eines Arzneimittels kaum jemanden. Wenn wir aber in Zukunft kontinuierlich diagnostische Daten über den Therapieverlauf digital sammeln und statistisch auswerten, werden wir zum Beispiel auf neue Wechselwirkungen stoßen. Demgemäß werden wir, besonders bei multimorbiden Patienten, die Dosis für mehrere notwendige Medikamente optimieren oder sogar ihre Anzahl reduzieren können. Dies könnte beispielsweise die Älteren unter uns betreffen. Bei ihnen ist es ja nicht unüblich, dass sie nebeneinander Metforminhydrochlorid gegen Diabetes II, Dutasterid und Tamsulosinhydrochlorid gegen gutartige Prostatavergrößerung, Acetylsalicylsäure gegen leichte Arteriosklerose, Amlodipinbesilat als Blutdrucksenker, Simvastatin zur Senkung des Cholesterinspiegels und Levothyroxin gegen leichte Schilddrüsenunterfunktion nehmen.
Der wichtigere Ansatz zielt auf Gene und ihre Funktion. Krebszellen zum Beispiel sind bei jedem Patienten unterschiedlich. Die gegen Covid etablierte mRNA-Technologie wird es in naher Zukunft ermöglichen, Therapien auf die Merkmale jedes speziellen Tumors zuzuschneiden. Dafür werden dem Patienten Tumorzellen entnommen und mit Hilfe einer Gensequenzierung untersucht. Sind die Krebszellen entschlüsselt, wird ein patientenspezifischer Impfstoff hergestellt. Der hat die Aufgabe, das Immunsystem in die Lage zu versetzen, den Tumor zu erkennen und zu bekämpfen. Dabei wird die „fremde" Struktur, die das Immunsystem erkennen soll, nicht mehr im Labor, sondern vom Körper des Patienten selbst hergestellt. Die geimpfte mRNA ist der Bauplan. Diese Strategie führt auf ein Medikament der Losgröße 1: extra für diesen Patienten gegen seinen Tumor angefertigt.“
Wo wird eine solche personalisierte Medizin in unserem Alltag heute schon verwendet?
„Individualisierte mRNA-Therapien sind noch in der Entwicklung. Aber bereits heute sind Krebstherapien meist auf den einzelnen Patienten zugeschnitten. Sie kommen nicht mit dem Gießkannenprinzip bei allen Patienten zum Einsatz, sondern nur dann, wenn der Tumor über die entsprechende genetische Zielstruktur verfügt. Realität ist auch die sogenannte CAR-T-Zelltherapie. Dabei werden Zellen gezielt programmiert; sie können dann Krebszellen erkennen und zerstören. In der Praxis werden dazu dem betreffenden Patienten bestimmte Abwehrzellen aus dem Blut entnommen, sogenannte T-Zellen, und unter Einsatz von Zytokinen vermehrt. Anschließend werden sie über biotechnologische Prozesse gentechnisch verändert und bilden dabei antigenspezifischen Rezeptoren auf ihrer Oberfläche. Diese wiederum richten sich gegen tumorspezifische Oberflächenproteine. Schließlich werden die so gewonnenen Wirkstoffe dem Patienten durch Infusion verabreicht. Krankenhausapotheken oder, in bestimmten Ländern wie etwa in Holland, sogenannte Compounding-Zentren stellen schon heute solche individuellen Medikamente her. Sie sind allerdings teuer: Eine solche Therapie bewegt sich im Rahmen von 300.000 Euro.“
Wie sieht Ihre Vision für die personalisierte Medizin der Zukunft aus? Worauf können wir uns heute schon freuen?
„Ich bin überzeugt, dass wir mit den bestehenden wissenschaftlichen Ansätzen in absehbarer Zukunft die wichtigsten Krebsarten therapieren können – noch während meiner Lebenszeit. Wir werden allerdings nicht in jedem Falle eine komplette Heilung herbeiführen, sondern manchmal nur eine Lebensverlängerung um sechs bis neun Monate erreichen können. Auch kommen wir in eine ethische Diskussion und müssen einen Weg finden, eine solche Therapie zu tragbaren Kosten durchführen zu können. Aber dass das gelingen wird, davon bin ich auch überzeugt.“
Was bedeutet dies für die Art, wie Medikamente in Zukunft produziert werden?
„Wenn durch die Diagnose 1:1 die Therapie bestimmt wird, führt dies auf die besagte Chargengröße 1. Es wird weiterhin auch Pharmaproduktionen mit großen Chargen geben – zum Beispiel für Metformin. Die personalisierte Medizin führt jedoch auf dezentrale, regionale Fertigung in Table-Top-Biotech-Fabriken mit Single-use-Equipment. Pumpen, Steuerungen und Elektronik funktionieren für verschiedenste Medikamente sehr ähnlich. Grundsätzlich kann eine Apotheke eine solche Produktion übernehmen.
Tabletten könnte man drucken, Kapseln mit wirkstoffhaltigen Mikropellets füllen. Den größten Teil werden aber parenteral verabreichbare, also flüssige Arzneimittel ausmachen, gerade für die Onkologie oder für die HIV-Therapie.“
Wie muss dafür die Reinraumtechnologie ausgelegt sein?
„Der Trend geht zum „gloveless isolator“. Für die personalisierte Medizin braucht man im Inneren des Isolators Reinraumklasse A und außen in der Umgebung Klasse C.“
Was sollte sich ein Besucher der Cleanzone, der sich für personalisierte Medizin und ihre Herstellung im Reinraum interessiert, besonders genau ansehen?
„Es wird spannend sein, ein Gefühl für die zukünftige Richtung des Gesamtmarktes für personalisierte Medizin zu entwickeln. Es könnte angesichts der Datenmengen in diesem Bereich sein, dass Unternehmen wie Google und Amazon mitmischen wollen. Auf der Cleanzone können die Besucher geeignete Partner für ihr eigenes Unternehmen finden.
Allerdings verfügen die im Zuge von Corona bekannt gewordenen Impfstoffhersteller bereits über die erfolgsversprechenden mRNA-Strategien zur Gen- und Zelltherapie. PCR-Tests lassen sich schon in Minutenschnelle auswerten. Und auf der Cleanzone finden wir namhafte Maschinenbauer und Reinraumspezialisten, die zum Beispiel geeignete Isolatoren und das benötigte Single-use-Equipment bieten. Sie gehen teilweise bereits Kooperationen ein und bereiten damit den Einzug der Fertigung patientenindividueller Arzneimittel schon heute vor.“
Morten Schlothauers Vortrag „Personalisierte Medizin - Chancen und Herausforderungen“ findet im Rahmen der Cleanzone Conference am 24. November 2022 von 10:00 - 10:20 Uhr statt.
Cleanzone
Internationale Fachmesse und Kongress für Reinraumtechnologie
Die Veranstaltung Cleanzone findet am 23. + 24. November 2022 in Frankfurt am Main statt.
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